Dorfkirche oder Kirche im Dorf?
Der Landesverein für Innere Mission und die Gemeinde Rickling
Frank Ragutt
Eine christliche Kirche in einem Dorf in der norddeutschen Provinz erregt in der Regel nicht viel Aufsehen. Es sei denn, sie bietet der Gemeinde durch ihre besondere Architektur oder zumindest außergewöhnliche Kunstschätze eine Attraktion für den Tourismus. Der schmucklose Backsteingotikbau der Ricklinger Kirche aus dem frühen 20. Jahrhundert mit rotem Ziegeldach, dessen Turm mit Uhr keine Spitze, sondern ein Firstgrad ohne Kreuz, aber mit Wetterhahn und Antenne, schmückt, gehört eher nicht zu den kunsthistorisch bedeutsamen Gebäuden. Dennoch ist die Kirche, die seit ihrer Fertigstellung im Jahre 1908 in der Dorfmitte steht, für viele Ricklinger und auch für den Landesverein für Innere Mission als Institution ein bedeutsamer Ort, auf dessen Geschichte man nicht ohne Stolz zurückblickt. Der Kirchenbau bildet in der Ricklinger Erinnerung einen entscheidenden Schritt für die Kirchengemeinde auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit. Und die Backsteinkirche wird als Symbol für die Beziehung zwischen Landesverein und Gemeinde Rickling aufgefasst, denn mit ihr – erbaut durch den Landesverein! – hatte „kirchliches Leben [...] einen festen Ort bekommen, gemeinsam für die Einwohner der Dörfer und die Bewohner der Einrichtungen des Landesvereins“.
Bis zur Einweihung der Dorfkirche hatte die Gemeinde Rickling keinen Kirchenbau besessen, auch wenn der erste kirchliche Raum in Rickling „in alter Fachwerkschönheit“ 25 Jahre zuvor „mit dem Landesverein für Innere Mission 1883 ins Dorf“ gekommen war, wie es in einer Festschrift zur 825-Jahrfeier der Gemeinde heißt. Vorher mussten die Gläubigen nach Neumünster zum Gottesdienst. Diese erste Kirche ist der alte Kirchensaal mit Spitzturm und Kreuz im Heidehof – heute eine Einrichtung des Landesvereins für Suchtkranke –, der allerdings eine Anstalts- und keine Gemeindekirche war. Dennoch ermöglichten die hier abgehaltenen Gottesdienste, zu denen auch die Ricklinger Bevölkerung eingeladen war, endlich den sonntäglichen Gottesdienst vor Ort. Für so manch ämere Ricklinger Bürger wohl eine willkommende Struktur, die den schmalen Geldbeutel schonte, da das teure Reisen des gottgefälligen Christen zum Gottesdienst nach Neumünster entfallen konnte. Eine eigene Kirchengemeinde entstand in Rickling aber erst 1947; die vollständige Abkopplung von Neumünster als Heimatgemeinde Ricklings erfolgte dann in den 1970er Jahren mit der Einrichtung einer eigenen Pfarrstelle. Man kann durchaus konstatieren: Sowohl den Kirchenbau als auch die Entstehung der Kirchengemeinde Rickling verdankt man dem Landesverein. Wohl auch deshalb ist man dem Geburtshelfer der Gemeinde weiterhin eng verbunden: Kirche und Friedhof in Rickling sind bis heute Eigentum des Landesvereins, die Kirchengemeinde „bewirtschaftet“ quasi beides.
Es ist schon etwas Besonderes für eine (Kirchen-)Gemeinde, wenn die Kirche der Gemeinde nicht ihr, sondern einem in der Gemeinde ansässigen Verein bzw. diakonischen Träger gehört; so wie es an sich etwas Besonders ist, ein solches dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossenes Unternehmen im Dorf zu haben, wie es der Landesverein für Innere Mission ist, dessen Aufgabe von „je her (...) gewesen (ist), sich gerade der Schwächsten und Hilfsbedürftigsten anzunehmen“, wie es Pastor Schmidt 1953 formulierte. Das Symbol der Ricklinger Kirche wirft nicht nur Fragen nach der Beziehung zwischen Dorfgemeinde und Landesverein an sich auf, sondern auch nach dem Verhältnis von Einwohner des Dorfes und Bewohner der Einrichtungen des Landesvereins.
Die nachstehenden Überlegungen bemühen sich um mögliche Antworten. Sie verstehen sich als Spurensuche nach der Identität eines besonderen Dorfes in der holsteinischen Provinz, das sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in besonderer Weise mit dem Gedanken christlicher Nächstenliebe und Fürsorge konfrontiert sah. Denn seit der Gründung von Arbeiterkolonie, Trinkerheilanstalt Salem und Erziehungsheimen durch den Landesverein zwischen 1883 und 1910 wurden Gemeindestruktur und Dorfleben nicht nur von der örtlichen Wirtschaft und Politik, von kulturellen Sitten und Bräuchen geprägt, sondern auch mehr als deutlich von, um es mit Victor Hugo zu formulieren, den „Elenden“ der bürgerlichen Gesellschaft, von denen viele, wenn auch nicht alle, sich natürlich auch „ganz frei“ im Dorf bewegten, wie Direktor Schmidt 1953 in einem Grußwort erinnerte. Gerade für die Zeit der Öffnung der Psychiatrie nach 1975 sind beispielsweise „regelrechte Auseinandersetzungen“ zwischen Dorfbewohner und Patient bzw. Landesverein überliefert, wie die Chronik zu berichten weiß: „Es erschienen fortan auch psychisch kranke Menschen unbegleitet im Dorf, die manche aus der Bevölkerung lieber nicht in der Öffentlichkeit gesehen hätten.“ Damals reagierte man mit verstärkter und beharrlicher Öffentlichkeitsarbeit, lud zu Informationsveranstaltungen ein, versuchte – mit Erfolg – ins Gespräch zu kommen, aufzuklären, für gegenseitiges Verständnis zu werben.
In einem besonderen Maße beeinflussen religiöses Leben und Wirken im Sinne der christlichen Nächstenliebe das Leben in Rickling. Ihrem Selbstverständnis nach ist Kirche für alle Mitglieder der Gesellschaft geöffnet. Sie wendet sich nicht nur den Wohlsituierten und Privilegierten zu, sondern auch und vor allem den Kranken, Schwachen und Mittellosen. Ihnen will sie eine Stütze im rauen Diesseits bürgerlicher Gesellschaft sein, ihnen will sie Mut und Hoffnung für Diesseits und Jenseits geben. Zumindest im Glauben soll vereint sein, was sich gesellschaftlich oft trennt. Das macht religiöse Zentren zu besonderen sozialen Räumen. Gotteshaus und Gottesdienst stehen allen offen: Religiöse Feste und Fürsorge möchten Menschen zusammenführen, ihnen Zusammenhalt, Trost und Orientierung geben. Die Art und Weise, wie religiöse Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft gelebt wird, kann den Charakter eines Dorfes oder einer Stadt formen. Nicht nur die Arbeit des Landesvereins, sondern auch die Geschichte der Ricklinger Kirchengemeinde wird mit Blick auf die Arbeit der Sozialstation für die Dorfbewohner und gemeinsame Feste der Bürger erzählt.
Wie mögen sich Leben und Alltag in Rickling gestalten, wenn christliches Wirken im Dorf nicht nur Begegnungen unter der einheimischen Bevölkerung über soziale Grenzen hinaus bedeutet, sondern in Verbindung mit dem bedeutenden diakonischen Träger Landesverein weit über die Ortsgrenze hinausreicht? Wenn also eine Einrichtung der christlichen Nächstenliebe ansässig ist, die sich nicht nur Bedürftigen vor Ort zuwendet, sondern physisch, psychisch und materiell notleidende Menschen von weit her im Dorf versammelt, und mit ihrer Arbeit den Ortsnamen Rickling quasi ‚zur Marke macht‘? Was bedeutet das, wenn eine der größten Festveranstaltungen im Dorf das jährliche „Jahresfest“ des Landesvereins ist, eine der besten Fleischereien der Region jene des Landesvereins? Wie mag Rickling mit der Institution Landesverein leben, von der es aus Sicht der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde wie den Ortschronisten in Rickling heute heißt, sie präge die Gemeinde maßgeblich und die der größte Arbeitgeber der Gemeinde ist, wie der Gemeindevorstand, Bürgermeister Christian Thomann, ausweist und damit unausgesprochen als wirtschaftlich wohl wichtigste Einrichtung des Dorfes versteht? Was mag es für das Leben in Rickling bedeuten, wenn die Zahl der von den Einrichtungen des Landesvereins – allerdings nicht nur in Rickling – betreuten Patient (2016: etwa 4.000 Plätze) die Zahl der Einwohner der Gemeinde (2015 ca. 3.100 Einwohner) übersteigt? Wie können Lebensgefühl und kollektives Gedächtnis der Menschen in einer Gemeinde wie Rickling beeinflusst werden, deren zentrale Einrichtung nicht nur wegen ihres Engagement in der diakonischen Arbeit weit über die Region hinaus bekannt geworden ist, sondern auch durch skandalträchtige Geschichten ihres Anstaltslebens und die Verstrickung in das NS-Unrechtsregime?
Rickling – Schlaglichter auf ein schleswig-holsteinisches Dorf im Strukturwandel
Das 1164 erstmals urkundlich erwähnte Dorf Rickling wäre wohl ein kaum über den engeren regionalen Raum hinaus bekanntes Dorf in Schleswig-Holstein, wenn nicht um 1880 der Landesverein für Innere Mission dort sesshaft geworden wäre. Der Landesverein gründete 1883 gegen die „sittliche und sociale Gefahr“, die dem „Volke aus dem Vagabundentum erwächst“, eine ländliche Arbeiterkolonie, für die er in Rickling einen Hof erwarb. Über die Jahrzehnte weitete er seine Tätigkeitsbereiche aus, gründete, erwarb und baute in Rickling und andernorts zahlreiche Einrichtungen. Sieht man von dieser Entscheidung des Landesvereins ab, hat Rickling als Dorf in Geschichte und Gegenwart traditionell Dörfliches zu bieten, das sich zwar im Ablauf der Ereignisse, aber wohl kaum strukturell von den Geschichten anderer Dörfer unterscheiden dürfte. Abgesehen davon, dass Rickling seit 1875 an die Eisenbahnstrecke zwischen Neumünster und Bad Segeberg, und damit an die regionalen Werk- und Handelszentren angebunden war. Ob die Existenz eines Bahnhofs mit ausschlaggebend für die Gründung der Arbeiterkolonie und der anderen frühen Einrichtungen in Rickling war? Die Quellen schweigen: Aber auf jeden Fall dürfte auch der Landesverein von der guten Infrastruktur profitiert haben.
Auch in Rickling veränderte der Strukturwandel im Laufe des 20. Jahrhunderts das ländliche Leben gravierend. Wir wollen nur einige Schlaglichter werfen und versuchen, uns der Gemeinde anzunähern: Die den Ort neben dem Landesverein prägende Landwirtschaft veränderte sich zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Folge der Motorisierung massiv. Für kleinere Höfe wurde die Landwirtschaft zunehmend unrentabel, „das Hofsterben begann“ auch in Rickling. Die Güter der Massenproduktion kamen auf neuen Transportwegen aus den Fabriken auch in die kleineren Orte. Diese Konkurrenz brachte einige Handwerksbetriebe in große Schwierigkeiten: Schumacher, Schneiderei, Sattlerei und Polsterei überlebten nicht. Geschäfte des alltäglichen Bedarfs wie Krämerladen, Bäckereien, Frisöre, Sparkasse usw. sowie eine Handvoll Gaststätten wurden zwar weniger, blieben aber bis heute erhalten. Stabil blieb im Dorf mit Land-, Zahn- und Tierarzt, Apotheke und Fußpflege ein kleines Gesundheitswesen, das – wie im Falle der Apotheke – zum Teil nur wegen des Großkonsumenten Landesverein überleben konnte. Während die kleine Polizeistation mittlerweile geschlossen wurde, wuchs die Freiwillige Feuerwehr recht kontinuierlich, wohl auch, weil sie dem Landesverein als Betriebsfeuerwehr dient. Was den Bildungsbereich angeht, hatte die Gemeinde schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine kleine Dorfschule, die auch die Schüler_innen der umliegenden Bauernschaften besuchten. Diese Schule wurde in den 1950er/60er Jahren zur Dörfergemeinschaftsschule ausgebaut. Heute existiert in Rickling jedoch nur noch eine einzügige Grundschule, da im heutigen Amt Boostedt-Rickling die Gemeinschaftsschule in Boostedt ausgebaut wurde. In der Gemeinde existiert bis heute eine recht stabile lokale Vereinskultur des Sports, der Kultur und der Heimatpflege.
Die Entwicklung des Landesvereins verhielt sich fast gegenläufig zu den beschriebenen Schließungen der handwerklichen und landwirtschaftlichen Betriebe im Dorf. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandierte er stark und differenzierte seine Geschäftsbereiche aus. Die Anzahl der Patient und Bewohner wuchs von 2.110 im Jahre 1953 auf heute ca. 4.000. Doch trotz des deutlichen Anstiegs an direkten und indirekten Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit der Expansion des Landesvereins, konnte dieser die Landflucht nicht auf Dauer aus Rickling fernhalten. Auch wenn die Zahl der Rickling seit Gründung des Landesvereins von ca. 500 auf etwa 1750 vor dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich anstieg (inkl. Bewohner der Einrichtungen), so sinkt die Einwohnerzahl seit 1970: Lebten 1970 noch fast 3.500 Menschen in Rickling, waren es vierzig Jahre später noch ca. 3.150.
Dorf und Landesverein – zwei fremde Geschwister?
Die speziellen Eigentumsverhältnisse in Bezug auf die Dorfkirche und die herausragende wirtschaftliche Stellung des Landesvereins als Arbeitgeber und Wirtschaftsfaktor erzeugen durchaus gemischte Gefühle der Verbundenheit unter Ricklinger: Nicht nur aus der Perspektive von Vertreter der Kirche lebt Rickling „fast ausschließlich für und von der Inneren Mission“. Befragt man heute einige Ricklinger Bürger, so wird auch in deren Wahrnehmung der Landesverein als „Boss“ vorgestellt, als Einrichtung, die „hier alles unter sich (hat)“, als Institution, die „eigentlich hier so das ganze Dorf (bestimmt)“. Vollständige Ablehnung fällt jedoch schwer: Der Landesverein sei es, der für ein sicheres Lebensgefühl im Dorf sorge, der dafür sorge, dass viele Ricklinger das Gefühl hätten, ihnen gehe es im Vergleich zu anderen Dörfern „relativ gut“, auch weil man von „niemanden (wisse), der beim Landesverein gewesen ist und der arbeitslos“ geworden sei. Dennoch: Innige Verbundenheit drückte sich wahrscheinlich anders aus; aus den Bemerkungen spricht doch eine gewisse Skepsis: Wem Rickling gehört, das scheint nicht ganz klar. Rickling, das scheint eben auch der Landesverein zu sein. – Und fast scheint es, als wisse der Landesverein von diesen ambivalenten Gefühlen: Wenn Ricklinger Bürger heute angesichts demographischer und wirtschaftlicher Veränderungen behufs der Fragen nach dem Erhalt des Dorflebens zusammentreten, wenn sie sich unter Verwendung zeitgenössischer Vokabeln fragen, ob sie einen „Dorfmanager“ benötigen, dann hält sich der Landesverein zurück. Jedenfalls tritt er als Akteur nicht in Erscheinung und wird scheinbar auch nicht eingeladen, wie die Ricklinger Bürgerversammlung im Jahr 2015 nahelegt, die über Zukunftsfragen beriet.
Die zwiespältige Beziehung Ricklings zum Landesverein mag man sogar im erst 1978 gestalteten Wappen der Gemeinde wiederfinden. Der Autor der heimatkundlichen Ricklinger „Geschichte und Geschichten“, Heinrich Brundert, leitet „vom Wappen her...“ den „Charakter des Dorfes“ ab, sieht diesen im „von einem seiner Bürger erdacht[en]“ Wappen ausgedrückt. Was zeigt dieses Wappen?
In der jüngsten Gemeindechronik heißt es eher schlicht: „Drei Bildelemente stellen das Charakteristische unserer Gemeinde dar: Ein silbernes Band zieht sich auf rotem Hintergrund diagonal über das Wappen und symbolisiert die Rothemühlenau, die zwischen den größten Ortsteilen Rickling und Fehrenbötel hindurchfließt. Der silberne Schwingpflug im rechten unteren Bereich symbolisiert die Landwirtschaft, das silberne Kronenkreuz der Diakonie steht für den Landesverein, der die Entwicklung des Dorfes maßgeblich geprägt hat und bis heute prägt“. Fluss, Schwingpflug und Kronenkreuz sind in Silber gehalten: Diese Wappenfarbe symbolisiert das Ehrenhafte, das Reine, das Unschuldige. Einer tiefgründigeren Deutung begegnet man auch in anderen Chroniken nicht. Dennoch bietet die Schlussbemerkung über die Einflussgröße des Landesvereins einen Zugang zu einer anderen Interpretation des Wappens: Man kann es auch als Zeugnis einer distanzierten Bindung zwischen zwei Geschwistern lesen. Die Anordnung lässt den Fluss auch als Grenzflusses erscheinen, wie eine Linie, die zwei Geschwister in das gemeinsam bewohnte Kinderzimmer ziehen, um ihre Bereiche voneinander abzugrenzen. So kann der Fluss, der ja eigentlich als verbindendes Element zwischen den Dorfteilen gedacht ist, dem unbedarften Betrachter des Wappens auch als Grenze entgegentreten, als Fluss mit zwei Ufern. Er verläuft als Diagonale von unten links nach rechts oben, eingezeichnete Wellenlinien suggerieren die Fließrichtung. Etwas übergriffiger gedeutet kann man den Fluss auch als eine aufsteigende und somit positiv verlaufende Kurve lesen, womit das Wappen die besondere Prosperität eines reichen Dorfes herausstellen würde. Dennoch blieben die beiden Ufer unmissverständlich getrennt und trotzdem vereint.
Wie Verhältnisse unter Geschwistern oft sind; man beäugt sich skeptisch, neidet sich manches, erlebt Konflikte, aber man hilft sich, wenn es drauf ankommt. In Krisen scheinen die meisten Ricklinger dem Landesverein doch innig verbunden zu sein. Dies zeigte sich beispielsweise immer wieder in der Spendenbereitschaft: Als der Landesverein für den Aufbau einer „Anstalt für minderbemittelte Alte und Kranke“ Ende der 1920er Jahre dringend finanzielle Hilfe benötigte, kam diese auch und nicht zu knapp von der lokalen Dorfbevölkerung. Man brachte, wohl auch aus der christlichen Überzeugung heraus, Spenden und Arbeit ein, wie eine Schwester in ihrem Bericht erinnert: „Alles Weigern, sie anzunehmen, half nichts“. Diese Hilfsbereitschaft wurde auch in einer immer stärker säkularisierten Gesellschaft und unter veränderten Finanzierungsmodalitäten sozialer Arbeit in der Bundesrepublik aufrechterhalten, so dass „Beiträge und Spenden“ noch lange dazu beitrugen, den regen und intensiven Ausbau der Institutionen des Landesvereins nach 1945 zu fördern. Die Advents- und Weihnachts- sowie Sommergrüße, die man in den 1950er Jahren an seine Förderer und Freunde überbrachte, standen immer auch im Zeichen der Danksagung großzügiger Spendeneingaben.
Arbeit in der Natur, Arbeit für das Dorf
Der Landesverein hatte für die Ansiedlung von Arbeitskolonie, Trinkerheilanstalt und Fürsorgeeinrichtung durchaus bewusst den ländlichen Raum gewählt. Arbeit „in Stall und Kornfeld, in Wald und Moor“ galt den Gründer_innen des Landesvereins als „großer Erzieher“, war ihnen das Mittel, mit dem sie die von der neuen Industrie- und Agrargesellschaft „Unbenötigten“ und auch deswegen vom Wege Abgekommenen „in eine Welt der Ordnung, der Sauberkeit, der Arbeit“ hineinzubringen gedachten, wie ein Anstaltsgeistlicher auf dem Jahresfest des Landesvereins in Rendsburg 1911 ausführte. Zugleich schien der ländliche Raum geeigneter, um dem „sich seinerzeit in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindenden Handwerk keine Konkurrenz“ zu machen; ferner boten sich den Bewohner vielfältige Betätigungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten: Land war urbar zu machen und zu bestellen. Schließlich diente die Arbeit in der Landwirtschaft, in Wald und Flur zugleich dem Erhalt der Anstalten, im Sinne der Selbstversorgung und in Bezug auf aus Überschüssen zu erwirtschaftenden Erlösen.
Mit diesem Erziehungsprogramm ging man recht erfolgreich durch die Zeiten- und Gesellschaftswenden. Auch während des Nationalsozialismus versuchte der Landesverein das Programm „Erziehung durch Arbeit“ dem Sprech der neuen Herrschaft anzupassen, um die Therapie und Erziehungsarbeit der Arbeiterkolonie – sie wurde 1939 geschlossen – in die neue Zeit hineinzutragen. In den Monatsblättern heißt es zwischen 1933 und 1939 ein ums andere Mal: „Die durch die lange Erwerbslosigkeit der Arbeit entwöhnten Volkgenossen wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern und ihnen die Arbeit lieb zu machen“, sei das Ziel. Nach wie vor böten sich hierfür die „überaus reichhaltig vorhandenen Arbeitsgelegenheiten in der Land- und Viehwirtschaft, in der Forst- und Gartenwirtschaft, in den Werkstätten aller Art, in den Bauabteilungen und im Torfwerk usw.“ an. Und auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gaben Werkstätte und „drei landwirtschaftliche Betriebe in Rickling, die im Zusammenhang mit der früheren Arbeiterkolonie und der großen Erziehungsarbeit entstanden sind“, wie es im Advents- und Weihnachtsgruß von 1955 nachzulesen ist, „auch heute noch den Pflegebefohlenen sinnvolle Beschäftigung und (dienen) zugleich mit ihren Erzeugnissen den Anstalten“. Allerdings nahm in der Nachkriegszeit die Bedeutung der therapeutischen Aspekte der Arbeit im Landesverein gegenüber dem Ziel, Erträge einzubringen, immer mehr zu.
In jedem Fall verband die Arbeit an den Herausforderungen der rauen Natur auch Landesverein und Dorf. Denn die Arbeit der „Insassen“ in Wald und Flur hat sich für Rickling gelohnt, teilweise gar die Härte von Leben und Arbeit auf dem Lande gemindert. In der oben zitierten Heimatgeschichte erinnert Brundert an die Unwegsamkeit der Uferwege für die bäuerlichen Fuhrwerke: „[E]rst durch die Kultivierungsarbeit des Landesvereins für Innere Mission entstand ein begradigtes Bachbett mit einer ausreichenden Entwässerung“. Die Arbeit in der Ricklinger Flur war kultivierende Entwicklung und ein Ort menschlicher Verbundenheit. In diesen Erinnerungen drückt sich Dankbarkeit aus. Aber dennoch besaß die gemeinsame Arbeit offensichtlich nicht die Kraft, die Ricklinger_innen und die Bewohner des Landesvereins wirklich in nahen Kontakt zu bringen. Erzählungen über sozialen Verbindungen, die über die Arbeit in der Landwirtschaft hinausgehen, finden sich nicht. Berichte von Hochzeiten zum Beispiel zwischen Dorfbewohner und „Insassen“ finden sich in den Quellen nicht. Trotz einer gewissen Verbundenheit blieb ein Graben, den der fünfte Vers des Rickling-Liedes, dessen Text vom 1914 gefallenen Franz Reißbach verfasst wurde, besingt: „Erst durch Fleiß und Arbeit ward’s mir lieb und wert -/Mancher der Verirrten hat mir erst gehört,/Als ich oft mit Bangen an des Heilands Hand/Bin mit ihm gegangen in ein heil’ges Land“. Im Lied drückt sich die durch Arbeit entstandene Zuneigung aus: aber zugleich eine im Diesseits scheinbar unüberbrückbare Hürde, die eine Symbiose beider Welten verhinderte. Erst der nahende erlösende Tod scheint den Verirrten, den vom rechtschaffenden Weg Abgekommenen Verständnis für den fatalen Lebensweg geben zu können. Dennoch ist der letzte Vers des Ricklingliedes von Liebe und Zuneigung getragen, denn auf dem letzten Weg begleiteten die Ricklinger ihre Neubürger, gaben ihnen Hoffnung auf das Jenseits. Aber im Diesseits, so scheint es, kehrte immer jeder nach getanem Tageswerk zurück zu seinem Ufer. Die Bewohner des Landesvereins auf ihre Höfe und die Einwohner Ricklings in ihre Häuser.
Kirche als Mittler zwischen Landesverein und Dorfleben?
Konnte Kirche helfen, Brücken zwischen Landesverein und Dorf zubauen? Ja, denn mit dem Landesverein kam eben die Kirche nach Rickling: Einrichtungs- und Dorfbewohner konnten auf dem Heidehof gemeinsam den Gottesdienst begehen, im Speisesaal. Wenn auch nicht verbrieft, so ist es gut vorstellbar, dass dieses seelsorgerische Angebot durchaus von nicht wenigen Ricklinger_innen dankbar angenommen wurde. Denn die allsonntäglichen Fahrten zum Gottesdienst in die eigentliche Heimatgemeinde nach Neumünster waren nicht nur zeitintensiv, sondern sicherlich auch kostspielig. Es entstand die Tradition des gemeinsamen Gemeindelebens zwischen Bewohner der Einrichtungen des Landesvereins und Einwohner des Dorfes Rickling, auf die man sich heute noch beruft: Wenn Ricklinger heutzutage den Geburtstag ihres Dorfes feiern, heißt es in der Festschrift unter der Überschrift „‚Kirche in Rickling’: vor allem aber sind das – wir. Viel mehr noch als ein Gebäude und eine Einrichtung ist ‚Kirche’ eine Glaubensgemeinschaft“.
Wer ist aber dieses Wir der Glaubensgemeinschaft? Sind die Patient und Bewohner des Landesvereins weiter Teil dieser Gemeinschaft, auch wenn es heute zwei Gotteshäuser in Rickling gibt, die Kirche im Dorf und die Kirche in der „Anstalt“? Scheinbar haben die Begegnungen zwischen den Bewohner des Landesvereins und den Einwohner Ricklings in der Kirche abgenommen: „Im Vergleich zu dem, was der Landesverein an Patienten hat“, so beschreibt Pastor Klehn die gegenwärtige Situation im Gottesdienst, „sieht man sehr wenige (...), früher war das so, dass viele Patienten (...), also ganz früher gab’s ja nur den Gottesdienst in der Dorfkirche und da waren ja auch der Pastor des Dorfes und der Direktor des Landesvereins eine Person. (...) da kamen die ganzen Patienten und es wurde auch vom Personal erwartet, dass die am Sonntag in die Kirche kamen. Aber heute gibt es den Gottesdienst für die Patienten auf dem Lindenhof. Und da sind die am Sonntag. Und da gibt es eine Handvoll, die ab und zu mal kommen. Aber es gibt viele Sonntage, da ist kein Patient vom Landesverein im Gottesdienst. Also es ist eher die Ausnahme“.
Es ist kaum zu klären, ob es, wie Pastor Klehn erinnert, früher tatsächlich mehr Kontakt zwischen den Patient und dem Personal des Landesvereins und den Dorfbewohner gegeben hat. Womöglich hat die Entwicklung der Gemeinde Rickling zu einer eigenen Kirchengemeinde mit separater Pfarrstelle, und das Feiern des Gottesdienstes für die Bewohner und Patient auf dem Lindenhof, wo 1995 eine Kapelle eröffnet wurde, tatsächlich sogar trennend gewirkt. Dennoch bleibt zumindest zweifelhaft, ob der Kontakt zwischen den Patient des Landesvereins, den Dorfbewohner und dem erweiterten Kreis der Unterstützer und Förderer früher wirklich so viel intensiver ausfiel. In den Berichten über die Jahresfeste vor dem Ersten Weltkrieg, die der Landesverein für seine Fördere und zur Werbung bereits seit Gründung regelmäßig veranstaltete, finden sich keine Erzählungen dazu, dass die Bewohner und Patient des Landesvereins an diesen teilnahmen. Die Feste feierte man auch nicht in Rickling, sondern in der Stadt, also nicht dort, wo die Bedürftigen untergebracht waren, sondern dort, wo das Geld zuhause war, das der Landesverein dringend für seine Arbeit benötigte. Die Jahresfeste sollten den „gebildeten Kreise[n] das große Liebeswerk der Inneren Mission“ nahebringen, der „Festgottesdienst (war) in der Stadtkirche (...) gedrängt voll (...) und manchem Landpastor (mochte) wohl der Wunsch kommen: Könnten wir so etwas auch auf dem Lande habe!“
Deutlich wird aber die Tatsache, dass der immer wieder beschriebene, gemeinsame Gottesdienst in früheren Zeiten zum festen Bestandteil der kollektiven Erinnerung über das Zusammenleben von Landesverein und Dorf zählt. Auch wenn die schriftlichen Überlieferungen auf andere Begegnungen außerhalb des Gottesdiensts kaum eingehen, scheinbar streben Viele nach der Begegnung von Dorfbewohner und Angehörigen des Landesvereins; zumindest in der Erinnerung und in der ideellen Form der Glaubensgemeinschaft.
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